Freitag, 6. April 2012

Frühlingsgefühle: Ladies' Skirt Racer "Hibiskuswolke"





Letzten Sommer unternehmen zuweilen junge Städterinnen in engen, knöchellangen Röcken und Flip-Flops Probefahrten vor den Toren Zugzwangs. Auf alten Rennrädern mit hohen Oberrohren und Klickpedalen - kleinen, unebenen Rennpedalen für den leistungssportlichen Spezialgebrauch.

Bei Zugzwang erkannte man Optimierungspotenzial. Man machte sich an die Arbeit.

Das Projekt erhielt rasch den Arbeitstitel "Skirt Racer".

Ein Zeitplan wurde erstellt, das R&D Department aufgestockt ("unlimited funds, cost no obstable" etc. etc.), interdisziplinäre Forschungsgruppen eingesetzt. International wurden führende Spitzenleute der Fachgebiete Design, Ergonomie, Materialwissenschaft/Metallurgie, Mechanik, Aerodynamik, Oberflächenbehandlung, Städtebau, Kulturgeschichte und Anatomie zusammengezogen.

Ein beispielloses Forschungszentrum nahm seine Tätigkeit auf, um eine kühne Vision zu verwirklichen.

Brainstormings überschlugen sich, tiefsinnige Meetings wurden abgehalten, Designstudien wurden entworfen, präsentiert, verworfen, geändert, wiederaufgenommen, geprüft, bezweifelt, bejubelt, hinterfragt, modifiziert, adaptiert, patentiert. Umfragen wurden durchgeführt, Probandinnen eingeladen, Blindtests veranstaltet.  Vergessene Werkstätten in Italien, Frankreich, England und Japan wurden bereist, greise Lötmeister interviewt. Testfahrten erfolgten unter strengster Geheimhaltung auf Teststrecken, die in keiner Landkarte verzeichnet sind. Stillgelegte Space Shuttles wurden geplündert, um an offiziell nicht existierende Weltraum-Werkstoffe zu gelangen.

Doch die langen Arbeitsstunden, die Komplexität des Projekts und immensen Anstrengungen, alle Ziele unter einen Sattel zu bringen, zollten ihren Tribut. Intern kam es zu Spannungen. Es war nicht mehr abzustreiten, dass zwischen den hochkarätigen Fachleuten unterschwellig ein Tauziehen um die Federführung beim Projekt Skirt Racer entbrannt war. Die Oberflächenwissenschaftler verwahrten sich strikte gegen das innenliegende Bremskabel der Aerodynamiker. Städteplaner provozierten die Designabteilung genüsslich mit lautstarken Forderungen nach Plattformpedalen.  Zwischen Historikern und Ergonomen kam es vorübergehend zu einer unschönen Prügelei in der Werkskantine, ausgelöst von einer Kontroverse um die richtige Lenkerform. Kurzum: die Nerven lagen blank.

Hastig herbeigerufene Arbeitspsychologen kamen scharfsinnig zum Schluss, dass die Situation "verfahren" sei. Nur "frischer Wind", so die weitere Analyse, würde das Problem "nachhaltig" lösen können. Hinter vorgehaltener Hand sprach man etwas markiger von "frischem Blut". Nur ein unverbrauchter, unbefangener Outsider, ein neues Gesicht, dem alle Experten ohne Vorurteile begegnen könnten, würde die Lage entspannen können, besagte der neue Ansatz.

Scouts zückten erregt ihre Telefone, Flugtickets nach Übersee wurden gebucht. Bald legten die Talentsucher erste Vorschläge auf den Tisch. Ein intensiver Evaluationsprozess nahm seinen drängenden Lauf. Um niemanden vor den Kopf zu stossen, galt es, die bereits besetzten Fachgebiete weiträumig zu umschiffen. Immer kuriosere Namen machten die Runde.

Die Wahl fiel schliesslich, der Zielsetzung entsprechend, auf ein weitgehend unbeschriebenes Blatt, das "dark horse" unter der Vielzahl der Kandidaten, einen rohen, noch ungeschliffenen Diamanten - die junge koreanischen Künstlerin H.

H. war am Anfang ihrer Karriere, sicherlich, aber die Scouts bescheinigten ihr unisono grosses Talent, ebensolche Hingabe, und überhaupt eine rosige Zukunft. Und Organisationstalent. Denn ganz allein vermochte sie ihre gigantischen Skulpturen und überdimensionalen Leinwände nicht zu bearbeiten. Ihr Heer ergebener Helfer dirigierte sie wie ein kleiner Karajan. Ideale Voraussetzungen also.

H.s anfängliche Skepsis, herrührend von einer wie sie fand bescheidenen physischen Grösse des zu gestaltenden Objekts, wich alsbald einem grossen Enthusiasmus für das Neuland, das zu betreten sie sich anschickte.

Kaum waren ein paar Sprachbarrieren dürftig überwunden, frass ihr die einstmals so zerstrittene Forschergemeinde aus der Hand. Flugs waren die besten Ideen kombiniert.

Resultat war ein perlweisser Prototyp, eindeutig mehr als die Summe seiner Einzelteile. Gegenseitiges Schulterklopfen allenthalben. Veuve Clicquot in Strömen, selbst Ergonomen und Historiker lagen sich in den Armen. Der Anbeginn einer neuen Ära!

Am Morgen drauf: Brummende Schädel, aber niemand machte sich was draus. Der Sportmediziner A.R. - aus naheliegenden Gründen der massvollste Trinker des vorangegangen Abends - öffnete am späten Vormittag als erster die Tore zu den weitläufigen zugzwangschen Produktionshallen und trat knirrschend auf ein paar Champus-Scherben. "Müssen wir wegmachen, bevor der Prototyp Schaden nimmt" dachte er mehr in warmer Verbundenheit mit den Objekt seiner Sorge als eigentlich besorgt. Er liess seinen Blick schweifen zu ebenjenem Objekt. Vielmehr: zum Ort, an dem der Prototyp gestern gestanden war, im Zentrum der Festgesellschaft. Aber da war nichts. Nun, jemand wird ihn in weiser Voraussicht in den Tresor geschlossen haben. Doch auch da wie auf dem übrigen Firmengelände - Fehlanzeige.  Keine Zeichen eines Einbruchs… an inside job! Geistesgegenwärtig griff A.R. zum Telefon, um die Nervenzentrale der Forschungsabteilung zu verständigen, den Rohdiamanten H. Keine Antwort. Seltsam. Nun konnte sich A.R. plötzlich auch nicht erinnern, H. an der gestrigen Feier gesehen zu haben. War es möglich? An OUTSIDER'S INSIDE JOB?

Interpol wurde alarmiert. Von H. keine Spur. Bange Tage unheilvollen Wartens. Dann die erlösende Nachricht! An der Biennale Istanbul…. eine Installation, vielmehr ein Mobile oder eine mobile Installation war gesichtet worden, die Umrisse schienen vertraut. Ausstellungskatalog dazu: "H., 'Hibiskuswolke', 2011. Stahl, Gummi, Butyl, Kunstleder, Lacke. Fahrbar." 

"Hibiskuswolke" war im Gegensatz zum dreist entwendeten, perlweissen Prototypen offensichtlich von der Künstlerin höchstselbst handbemalt in der ihr eigenen, unnachahmlichen Weise. Handbemalt oder nicht, jedenfalls aber tat die Polizei (sobald die Biennale nach wenigen Wochen ihre Tore schloss) ihre hehre Pflicht, beschlagnahmte das corpus delicti und repatriierte es wohlbehalten.

Endlich kann das Resultat zahlreicher Entbehrungen und monatelanger Entwicklung doch dem heimischen Publikum vorgestellt werden, Zugzwangs erster Skirt Racer:












Nachgetragen sei H.s kokette Auskunft zum weitherum diskutierten Vorfall. Unter lächelndem Hinweis auf eine durchaus unscheinbare Plakette an der weissgetünchten Museumswand ("Freundliche Leihgabe von zugzwang.ch") gab sie zu verstehen, es habe sich um eine ebenso selbstlose wie unschuldige PR-Aktion zugunsten ihres Auftraggebers gehandelt. Etwas traurig, so fügte sie leise bei, sei sie allerdings darüber, ihre ursprüngliche Absicht nicht in die Tat umgesetzt zu haben: Den Bosporus mit Hibiskuswolke auf einem brennenden Seil zu überqueren.





Zugzwang CSR 1, a.k.a. Hibiskuswolke. Unikat ist eine Untertreibung. Der erste seiner Art.

Komplett neu aufgebaut. Rennrahmen aus italienischen Columbus-Rohren, handbemalt von H. und überlackiert, neuer Radsatz, d.h. neue Naben, Felgen, Speichen, Felgenbänder, Schläuche, Pneus, Kassette, Schnellspanner. Neu auch Kette, Sattel, Vorbau, Griffe, Bremshebel, Pedale, Brems- und Schaltzüge. Grösse 55-56 und kurzer Lenkervorbau, für Kunstliebhaberinnen ab 1.68.


Das Schmuckstück ist verkauft.